(Homo)Sexualität ist natürlich

Magazine

Written by Straight Redaktion

25. März 2016

Geschlecht, Sexualität und Religion. In allen Weltreligionen gibt es moralische Grenzen in Sachen Geschlecht und Sexualität. Der Rahmen ist klar gesteckt, Überschreitungen führen zum Konflikt. Jedes Abweichen von Heterosexualiät wird be -und verurteilt. Im schlechtesten Fall übernehmen Staaten die Haltung der Religionen und bestrafen‚ widernatürliche‘ Verhaltensweisen, im besten Fall ignoriert der Staat religiöse Einflüsse und akzeptiert oder toleriert Menschenrechte. Was ist das Problem der Religionen? Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Bernd Draser mit Antworten. 

Sexualität und Religion sind eng miteinander verknüpft und werden dennoch oft als Kontrast empfunden. Gibt es so einen Kontrast überhaupt?

Nein, solch ein Kontrast existiert nicht. Religiöses Verhalten sucht von Anfang an symbolische Ausdrucksformen. Die sind natürlich der Lebenswelt der Menschen entliehen – und das naheliegendste sind nun einmal Essen, Trinken und Sex. Das sind die zentralen Elemente, die den menschlichen Alltag ausmachen. Deshalb ist es gar nicht überraschend, dass sie vom religiösen Bereich adaptiert werden. Das geht deutlich weiter als bei den monotheistischen Religionen, die ja relativ jung sind. Die Religionsgeschichte selbst geht ja zehntausende Jahre zurück und führt bis in die Frühzeit des Menschen. Schon bei den Neandertalern lässt sich religiöses Verhalten in Form von Bestattungsritualen nachweisen; ein Bestattungsritual macht natürlich nur dann Sinn, wenn eine Vorstellung von Wiedergeburt oder irgendeiner Form des Nachlebens, von einer Bedeutsamkeit des Todes mitspielt. Deshalb gibt es diese symbolischen Welten, die man schon in der Urgeschichte als sexualisiert erkennen kann. Schon in den Höhlenmalereien spielt sexuelle Symbolik immer wieder eine Rolle, auch in den frühesten Menschendarstellungen von vor 30.000 bis 40.000 Jahren, also zum Beispiel die Venus von Willendorf und die Venus vom Hohlefels mit den großen Brüsten, den üppigen Hüften und der überdimensionierten Scham.
Religion und Sexualität sind von Anfang an ganz eng verknüpft. Leben und Tod, das zyklische der Natur, die Sexualität und die Nahrung – das sind die Bildwelten, die das Religiöse von Anfang an geprägt haben.
Es gibt keine Religion, in der Sexualität nicht in irgendeiner Weise symbolische Bedeutung hätte und nicht in irgendeiner Weise reglementiert wäre. Von Beginn an spielt Sexualität eine wesentliche Rolle in den Religionen.

Stichwort Homosexualität. Warum tut sich das Göttliche damit so schwer?

Das Göttliche tut sich damit gar nicht schwer – gerade wenn man sich die griechischen oder orientalischen Götter anschaut. Der jüdisch-christliche Gott hingegen schon. Die monotheistischen Religionen insgesamt haben da Vorbehalte, aber die Religiosität als Ganzes überhaupt nicht.
Im Christentum hat sich sehr früh die Beschränkung auf die monogame heterosexuelle Beziehung als Urbild der Ehe durchgesetzt. Vor allem Paulus, der Apostel, setzte sich gegen die heidnische Mitwelt ab, in der sich das Christentum durchsetzen sollte. Deshalb wetterte er insbesondere gegen die Knabenliebe und die Freizügigkeit. Paulus tendierte auch zur Frauenfeindlichkeit. Man stößt im Korintherbrief der Bibel auf eine Stelle, wo er fordert, dass man Frauen, die sich den Kopf nicht bedecken, die Haare abscheren soll. An anderer Stelle sagt Paulus, dass die Frau in der Gemeinde schweigen soll.

Wenn ich mir als lesbische Frau die vermeintlich tolerante Antike anschaue, lässt sich dann sagen, dass früher alles besser war?

Man neigt dazu, die klassische Antike zu idealisieren. Aber auch in der Antike war Sexualität stark reglementiert. Gerade im klassischen Griechenland ist Sexualität zuallererst die männliche Sexualität. Die Sexualität der Frauen findet nicht statt, höchstens in der Literatur. Im „Symposion“, Platons Lehre vom Eros, bekommt die weibliche Sexualität eine überraschende Prominenz. Gerade die weibliche Homosexualität findet dort eine der wenigen Erwähnungen in der griechischen Antike. Sie ist aber nicht ganz positiv besetzt, da sie ausgerechnet in der Rede des Komödiendichters Aristophanes ihren Platz findet.
Aristophanes erklärt die geschlechtlichen Orientierungen dadurch, dass es früher drei Geschlechter gegeben habe: Doppelgeschlechter, die so genannten Kugelmenschen, also Mann/Mann, Frau/Frau und Frau/Mann. Von den Göttern wurden diese Kugelmenschen in zwei Teile gespalten, so dass es fortan nur noch zwei Geschlechter gab, aber eben mit drei geschlechtlichen Orientierungen, immer hin zu dem Part, von dem man getrennt wurde. Es gab also eine ursprüngliche männliche Homosexualität, eine ursprüngliche Heterosexualität und eine ursprüngliche weibliche Homosexualität. Diese wird aber abgewertet. Die einzig tugendhafte, angesehene Sexualität war die männliche Homosexualität. Und warum? Weil dabei keine Frauen vorkommen.

Das ist ja frech! Wie bewertet Aristophanes die weibliche Homosexualität in seiner Rede?

Er sagt ganz klar, dass Männer, die Männer lieben, die tugendhaften seien. Männer, die Frauen lieben und Frauen die Männer lieben, seien die typischen Ehebrecher. Weibliche Homosexualität gilt hier nicht als Abweichung, sondern als eine Ursprungsnatur. Dennoch ist die klassische Antike eindeutig frauenfeindlich. Die Frau galt per se als unrein. Aber auch bei Männern war die Penetration problematisch: Der passive Part beim Anal- oder Oralverkehr war ehrenrührig, und zwar deshalb, weil man sich dabei in die Position der Frau begab. Das machten nur Sklaven oder Barbaren.
Das heißt natürlich nicht, dass die Praxis auch so aussah. Das war ein Ideal, das in der Lebenswelt kaum eine Entsprechung hatte, denn es ist ja ziemlich unpraktisch, wenn es nur aktive Männer gibt. Das kann man auch aus all den unverblümten Anspielungen in den Komödien von Aristophanes herausziehen, der zum Beispiel einige Promis „Klaffärsche“ nennt.

Was könnte unsere Gesellschaft denn heute noch von der antiken Vorstellung der Kugelmenschen und ihren drei Geschlechtern lernen?

Wir haben nach wie vor eine sehr dichotome Vorstellung  von Geschlecht. Männlich auf der einen Seite, weiblich auf der anderen Seite und dazwischen Schattierungen. Platon zeigt, dass es eine Vorstellung von Geschlechtlichkeit gibt, die eben nicht in dieser Zweiteilung liegt. Es gibt drei originäre Geschlechter, und das Mischgeschlecht, das wir seit der Aufklärung als die Norm betrachten, ist nur eines von Dreien. Sowohl männliche als auch weibliche Homosexualität sind ursprünglich und gleichwertig. Dass das moralisch anders bewertet wird, ist eine Sache, ontologisch bleibt die Gleichwertigkeit.

Wenn die Antike frauenfeindlich war, wie angesehen war denn dann die lesbische Lyrikerin Sappho? Wurde sie negativ bewertet?

Saphho ist eine ganz große Ausnahme, weil sie das Ideal der Knabenliebe eins zu eins auf die Mädchenliebe übertrug.
Ganz kurz zur Knabenliebe, um in dem Kontext die Mädchenliebe verständlich zu machen: Die Knabenliebe ist kein liberaler Ansatz, sondern im Gegenteil eine sehr konservative, traditionelle adlige Konstitution. Und zwar gehört das in die Initiationsriten der jungen Adligen, die damit in die Welt der Krieger überführt wurden. Das heißt, das war eine sehr archaische Institution, die stets eine didaktische Aufgabe hatte. Es ging darum, den Knaben reifen zu lassen und auf die Erwachsenenwelt vorzubereiten. Hier gab es die klare Aufteilung zwischen dem Eromenos (Geliebter) und dem Erastes (Liebhaber). Das war immer eine didaktische Verbindung, das meint, der Jüngere, eher passive Part – aber auch nicht zu passiv, weil das dann wieder als entehrend galt –, hatte Teil an den Tugenden des Älteren. Das war so die Aufteilung.
Sappho, die Pädagogin und Leiterin eines Mädcheninternats war, übertrug dieses Ideal der Knabenliebe auf die Mädchen. Wobei eine etwas andere Note hinzukommt, die noch ein bisschen archaischer ist. Insofern gleicht sie Archilochos, einem etwas älteren Dichter, der sich selbst als Individuum sehr reflektiert hat, und zwar als vergängliches, kränkelndes Individuum mit Schwächen, was der adligen Tugendethik deutlich entgegenläuft.
So ähnlich ist es auch bei Sappho: Wenn sie verliebt ist, sind die Gedichte sozusagen ein Abarbeiten ihres Liebesschmerzes. Sie ist also immer wieder verliebt in die schönen, jungen Mädchen, betet Aphrodite an, sie möge ihr beistehen, und jammert über die Untreue und das Altwerden. Man findet in ihrem Werk sehr anrührende Stellen, wo sie den Prozess des eigenen Alterns reflektiert – und wahrscheinlich ist sie gerade deshalb auch so verliebt in die Jugendlichkeit dieser Mädchen. Auf der anderen Seite ist historisch auch bekannt, dass Sappho verheiratet war und Kinder hatte, was aber keine Rolle spielte. Das war bei der Knabenliebe ähnlich. Die erwachsenen Männer, die Erastis, waren in der Regel auch verheiratet, aber die eheliche Sexualität diente in diesen Fällen nur zur Fortpflanzung. Kein ehrenhafter Mann war in eine Frau verliebt, sondern wenn dann in einen Jüngling. Dieses Bild kehrt sich bei Sappho ganz interessant um und sie wurde tatsächlich sehr hochgeschätzt.

In Bezug auf die Knaben oder Mädchenliebe: Was wurde gelehrt und waren diese Verbindungen primär didaktisch oder auch explizit sexuell?

Soweit man das von Platon und seiner Auffassung von Knabenliebe ableiten kann, ist es so, dass es darum geht, dass ein erwachsener, tougher Mann sich an der Schönheit eines Jünglings ergeht und ihm als Gegenleistung dafür, neben Erziehung und Bildung, Geschenke gibt, die allerdings sehr formalisiert sind. Er lehrt den Jüngling quasi die Tugenden des erwachsenen Mannes.
Der Preis für all das ist natürlich ein sexueller, der aber stark reglementiert war. Analverkehr war eindeutig ausgeschlossen. Standardmäßig ging es um den sogenannten „Schenkelverkehr“. Das heißt, der Ältere rieb sich zwischen den geschlossenen Schenkeln des Jüngeren und ergoß sich darin, wobei Letzterer allerdings keine erkennbare Lust daran empfinden durfte, da er sonst als eine Art Schlampe galt.
Es ist im Übrigen genau dieses Ideal von Sexualität, das sich durchaus noch heute um das Mittelmeer herum wiederfinden lässt. Die Auffassung von männlicher Sexualität einerseits und weiblicher Sexualität andererseits hat dort eine gewisse Dauerhaftigkeit. Und gerade im Mittelmeerraum, vor allem im südlichen, ist eine Frau, die überhaupt eine eigene Sexualität auslebt, die Schändliche. Das ist sozusagen unser abendländisches Erbe.

Nochmal zurück zu Sappho. Mündete ihre didaktische Verbindung zu den Mädchen in sexuellen Akten?

Soweit man das aus ihren Gedichten ableiten kann, ja. Sie spricht von Küssen und gemeinsam verbrachten Nächten, wobei die Schilderungen bei Weitem nicht so explizit sind wie die Schilderungen über die männliche Knabenliebe.

Machen wir einen Sprung. Was sagt uns eigentlich die Bibel mit dem Hohelied?

Oh ja, das Hohelied. Das ist ein bemerkenswertes Stück. Es gibt zwei Texte im alten Testament, die völlig verblüffen und aus dem prophetischen Kontext herausfallen. Zum einen das Buch Kohelet, mit dem Prediger Salomon, das ein sehr ungewöhnliches Buch ist, denn dort geht es nicht um Gott, sondern um altorientalische Lebensweisheiten, die im krassen Wiederspruch zu den religiösen Auffassungen stehen, die man im Alten Testament erwarten würde.
Dann das Hohelied, das zu diesem seltsamen Duo gehört, das eigentlich so gar nicht in eine religiöse Schrift hineinpassen will. Und tatsächlich war es auch bereits der alten rabbinischen Tradition im dritten vorchristlichen Jahrhundert sehr suspekt. Um diese Textpassage im religiösen Sinne zu rechtfertigen, bedurfte es einer allegorischen Deutung, denn es handelt sich hier um erotische Texte. Das Hohelied besteht aus einem Wechselgesang zweier Sprecherrollen über acht Kapitel hinweg, in Form einer jungen Frau und eines jungen Mannes, die sich gegenseitig begehren, suchen und finden. Das alles wird in einer sehr sinnlichen, poetischen Sprache dargelegt. Wir haben es hier also eindeutig mit profaner Literatur zu tun, mit erotischer Liebesdichtung. So besingen die Sprecher die gegenseitigen körperlichen Vorzüge. Die weiblichen Brüste werden zum Beispiel als munter herumspringende Rehkitze an einem Berghang beschrieben.
Ganz überraschend ist auch die Schilderung des weiblichen Begehrens des männlichen Körpers. Dass ein Mann die Schönheit einer Frau beschreibt, mag im alttestamentlichen Kontext ja noch angehen. Aber der Umschwung auf die Sexualität und die sexuellen Vorstellungen der Frau, das Besingen der körperlichen Vorzüge des Mannes aus ihrer Perspektive, das ist zwar eine sehr authentische, aber auch sehr verblüffende Äußerung weiblicher Sexualität.
Das Hohelied beschreibt somit recht offen den originären Ausdruck weiblicher, heterosexueller Lust. Diese Tatsache war natürlich ein Schock für die Interpreten der Bibel. Deren Lösung bestand in einer allegorische Deutung, nämlich: Die Frau stellt das Volk Israel und der Mann Gott, Jahwe, dar. Und diese beiden sehnen sich nacheinander und gehören zusammen.
Mit dieser allegorischen Interpretation ließ sich das Hohelied dann irgendwie rechtfertigen. Das Christentum hat das übernommen, wo dann die Geliebte die Kirche darstellt und der Mann Gott.

In der sogenannten Braut-Mystik ab dem 12. Jahrhundert gibt es allerdings eine ganz andere Deutung. Dort wird dieses vorgezeichnete Bild radikal umgedeutet, und zwar wieder aus der weiblichen Perspektive heraus. Das waren sehr religiöse Frauen, die offensichtlich explizite sexuelle Visionen hatten, in denen der Liebespartner Christus ist. Die mystische Hochzeit, das ist die Vereinigung der mystischen Seele einer Frau mit Christus.Das ist  eine radikale Wende. Diese Bilder werden also wieder so gelesen, wie sie ursprünglich einmal gemeint waren im Alten Testament – nämlich als eine erotische Beziehung zwischen einem weiblichen und einem männlichen Individuum. Und da geht es manchmal sehr zur Sache und die weibliche Heterosexualität findet einen unverblümten Ausdruck. Das traut man dem dunklen Mittelalter gar nicht zu!

Geht es da primär um Lust oder spielt die Fortpflanzung eine Rolle?

Die Fortpflanzung spielt da gar keine Rolle. Es geht allein um das sexuelle Begehren und das Erleben der Lust. Die Sexualität ist die Metapher für die Vereinigung der Seele mit Gott.

Spielt die homosexuelle Liebe in der Bibel eine Rolle?

Ja, durchaus. Leider meistens negativ. Es gibt im Prinzip nur eine Stelle, die positiv besetzt ist. Im Grunde ist Homosexualität immer das, was verboten ist. Männer, die sich zu Knaben hingezogen fühlen, sind verboten. Weibern, die sich zu Weibern legen, wird Schande nachgesagt. Homosexualität wird also immer als Negativbild beschrieben, was schon etwas heißen mag. Es muss also hoch hergegangen sein, sonst wäre es gar nicht nötig gewesen, die Homosexualität so explizit und detailreich zu verbieten. Und was es nicht gibt, müsste man ja auch nicht verbieten. Es gibt aber 613 Verbote an der Zahl.

Welche Stelle ist die positive?

Diese Stelle findet sich in der Geschichte von König David und Jonathan. Hier gibt es eine sehr eindeutige Liebesgeschichte zwischen Jonathan und David und das wird auch in expliziten Zeilen verkündet, was schwule Männer über die Jahrtausende hinweg herausgelesen haben, um sich damit im stillen Kämmerlein zu trösten. Wenn man wissenschaftlich darauf schaut, dann erkennt man, dass die Orte, an denen sich David und Jonathan treffen, verklausulierte Symbole für eine erotische Liebesbeziehung darstellen. Ein Beispiel wäre z.B. das Treffen auf dem Feld – das ist ein Code für die Erotik. Die weibliche Homosexualität ist in der Bibel allerdings weitestgehend unsichtbar.

Interview: Jasmin Acar / Illustration: Caro Mantke

Das Interview erschien 2016 in der dritten Ausgabe von STRAIGHT Magazine Print

Discover

related

Filmtipp: Immer der Nase nach

Filmtipp: Immer der Nase nach

Es ist eine Binsenweisheit: Veränderung gehört zum Leben? Aber wie umgehen mit einem neuen Lebensabschnitt? Genau darum dreht sich der neue ZDF-Film "Immer der Nase nach" von Regisseurin Kerstin Polte. Story in kurz:  Aussortiert - und das mit knapp 50! Beruflich wie...

mehr lesen
GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner